Wenn wir eine Software bedienen möchten wir am besten nicht darüber nachdenken müssen, sondern wünschen uns ein intuitives Nutzungserlebnis. Meistens beginnt die Denkarbeit aber schon, sobald wir uns überlegen müssen, was wir überhaupt erreichen wollen und welche Funktionen uns in diesem Zusammenhang geboten werden.
Gute Software wird im klassischen Design häufig als ein Werkzeug verstanden, das in seiner Ergonomie und Effektivität optimiert werden muss. Wenn dies gelingt ist ein wichtiger Schritt hin zu einem intuitiven Nutzungserlebnis getan. In der Interaktion zwischen Mensch und Software kann letztere aber auch eine viel größere Rolle einnehmen. Was wäre, wenn aus dem nützlichen Werkzeug plötzlich ein intelligenter und aufmerksamer Freund wird, der uns als Anwender die Wünsche von den Lippen abliest bevor wir sie überhaupt ausgesprochen haben?
Ein solches Design, dass nicht unbedingt auf eine Anweisung des Nutzers wartet, sondern “vorausdenkt” und lästige Entscheidungen zur richtigen Zeit abnimmt wird als “Anticipatory Design” bezeichnet.
Anticipatory Design erzeugt ein Nutzungserlebnis, das über einen reibungslosen Interaktionsprozess hinausgeht. Es ist persönlich, intelligent und vorausschauend. Als Nutzer fühlen wir uns verstanden, wertgeschätzt und erleben kurze Momente der Klarheit in der alltäglichen Flut an Informationen und Handlungsmöglichkeiten.
In seiner Umsetzung kann Anticipatory Design verschiedene Formen annehmen. Zur Übersicht stellen wir im folgenden vier der wichtigsten Herangehensweisen an praktischen Beispielen vor:
Produktive Funktionen leicht zugänglich machen
Google Hangouts
Der Messenger von Google kann auf bestimmte Nachrichteninhalte reagieren und dem Nutzer hilfreiche Funktionen vorausschauend anbieten. Empfängt man beispielsweise eine Frage nach dem eigenen Standort lässt sich die Funktion zum Teilen aktueller GPS-Koordinaten direkt als vorgeschlagene Antwort aktivieren.
iOS Einstellungen
Wi-Fi-Passwörter sind häufig lang und für Menschen schwer zu merken. Seit iOS 11 wird daher für angemeldete Nutzer eine Funktion zum Teilen des Passworts angeboten, sobald sich ein anderes iPhone in das selbe Netzwerk einwählen möchte. Der Prozess des Diktierens und Eintippens kann damit abgekürzt werden.
Momentan relevante Informationen hervorheben
Google Maps
Wer mittels Google Maps zu einem Geschäft oder einer anderen öffentlichen Einrichtung navigieren möchte wird vor einem nahem Ende der Öffnungszeiten gewarnt. Es wird angenommen, dass diese Information in der Planung des Nutzers eine wichtige Rolle spielen kann.
Microsoft Outlook
Wenn der Outlook-Client eine Mail mit einer persönlichen Ansprache durch „@Nutzername“ empfängt wird erwartet, dass die folgenden Zeilen für den Leser besonders relevant sein könnten. Dieser Textabschnitt wird entsprechend bereits als Inhaltsvorschau im Posteingang angezeigt.
Anpassung an Vorlieben und Verhalten des Nutzers
Amazon.de
Ein klassisches Beispiel für Anticipatory Design ist die Personalisierung von Inhalten, wie sie von Amazon angewandt wird. Aus gekauften, gemerkten oder angesehenen Produkten wird ein individuelles Kundenprofil aufgebaut, auf dessen Grundlage neue Produktempfehlungen gegeben werden.
Duolingo
Der Sprachtrainer Duolingo erinnert seine Nutzer regelmäßig an ausstehende Übungsstunden. Werden diese Mitteilungen aber wiederholt ignoriert wird geschlussfolgert, dass diese dem Nutzer keinen Mehrwert bieten und die Mitteilungsfunktion automatisch deaktiviert.
Potentiellen Problemen vorbeugen
Siri
Siri beugt bei der Erstellung von Kalendereinträgen einem häufigen Missverständnis menschlicher Kommunikation vor: Spricht der Nutzer nach Mitternacht, aber vor Tagesanbruch von “Morgen” fragt der Sprachassistent konkret nach, welcher Tag gemeint ist.
Google Chrome
Der Chrome-Browser für iOS zeigt seine Suchleiste standardmäßig am oberen Bildschirmrand an. Im Startbildschirm der App wird die Suchleiste aber ähnlich wie in der Webansicht mittig unter dem Google-Logo angezeigt. Tippt der Nutzer aus Gewohnheit in den leeren Bereich am oberen Bildschirmrand wird dies dennoch als Suchabsicht interpretiert und entsprechend das Eingabefeld selektiert.
Wie aufwändig ist Anticipatory Design?
Anticipatory Design wird häufig in Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz und lernenden Algorithmen genannt. Tatsächlich stellen Machine-Learning-Verfahren eine effektive aber auch aufwändige Methode zur automatischen Mustererkennung in umfangreichen Datensätzen dar. Facebook passt die Inhalte seiner Newsfeeds beispielsweise auf diese Weise an persönliche Interessen und Vorlieben des Nutzers an. Anticipatory Design ist aber nicht auf eine derart tiefgehende Datenanalyse beschränkt, sondern lässt sich wie in den meisten der zuvor gezeigten Beispielen auch ohne statistische Methoden umsetzen. Für den Nutzer ist wichtig, dass die Software richtige Annahmen zu seinen Zielen aufstellt und im richtigen Zeitpunkt einen entgegenkommenden Benefit leistet. Ob dies durch ein mächtiges Rechenzentrum oder lediglich einen intelligent platzierten Button erreicht wird spielt keine Rolle.
Weniger Entscheidungen aber mehr Freiheit!
Mit Anticipatory Design geht aber auch eine besondere Verantwortung einher. Falsch eingesetztes Anticipatory Design macht die Erfüllung einer Aufgabe nicht nur unmöglich, sondern kann sogar ein Gefühl der Bevormundung erzeugen. Wird von falschen Nutzerzielen ausgegangen kann der vorausschauende Charakter schnell als befremdlich oder destruktiv empfunden werden. Anticipatory Design sollte deshalb niemals den einzigen Weg für die Erfüllung eines Ziels darstellen.
Auch nach mehr als 20 Jahren gilt weiterhin Nielsens Design-Heuristik zu Nutzerkontrolle und Freiheit: Bei allen Prozessen und Entscheidungen sollte der Nutzer selbst das letzte Wort haben können.